Die Chronik

Singen in Lehrte - 150 Jahre Lehrter Männerchor 1867 bis 2017 - ein Blick in die Vereinshistorie

Autor: Klaus Wolf 1867 ein Jahr, das nach der Schlacht von Langensalza am 27.6.1866 dem jungen Königreich Hannover die Schrecken einer Kapitulation und die Entthronung seines Königs Georg V. brachte. Preußen annektierte das Land und »degradierte« es zur Provinz Hannover.
Auch im Gebiet um Lehrte musste man sich mit diesen Tatsachen abfinden. Zu jener Zeit war aus dem beschaulichen Dorf mit seinem Bauernstand im Siedlungsraum des Großen Freien schon die »Eisenbahnerstadt« Lehrte geworden. Das Dampfross und seine Schienenstränge hatten im wahrsten Sinne des Wortes die deutschen Lande überrollt. Erste Streckenführungen von Hannover nach Braunschweig (1843) und von Celle nach Hildesheim (1845) machten den vormals kleinen Ort zu einem überregional bedeutenden Verkehrsknotenpunkt. Die Einwohnerzahl stieg rasch auf über 2000 Einwohner und nördlich des Lehrter Bachs entstand eine völlig selbstständige Bebauung mit Häusern, Straßenzügen, Handwerk, Einzelhandel, Gastronomie und Schienensträngen.
Circular
Circular

Um damals die Gründung eines Männergesangvereins in Gang zu setzen, bedurfte es jedoch noch weiterer »glücklicher« Umstände: Die von der Eisenbahn geprägte Bevölkerungsentwicklung brachte die alte Dorfschule an ihre räumliche Kapazitätsgrenze.Ein Neubau musste her. Es entstand die »neue« Schule an der Masch (1864/65) mit einer entsprechend größeren Lehrerschaft. So ist es der Initiative des 1865 dort tätigen Lehrers Friedrich Mund zu verdanken, dass in Lehrte die Gründungsidee eines Männergesangvereins entstand. Da Herr Mund auch das »Musikhandwerk« beherrschte stand mit ihm auch gleich ein Chorleiter zur Verfügung. Es dauerte ein paar Monate bis am 13. Januar 1867 dieses »Circular« die Runde machte.

Text: Unter der Direktion des Herrn Oberlehrer Mund wird am Dienstag, den 15. d. M. abends 7 ½ Uhr die erste Versammlung des Männer Gesang Vereins auf dem O. Molsen’schen Saale hierselbst stattfinden. Wozu nachstehende Herren eingeladen werden.

An diesem Abend wurde die offizielle Gründung des »Männergesangvereins Lehrte« mit eigenhändigen Unterschriften von 55 aktiven und 22 passiven Mitgliedern beschlossen.

Die ersten Jahre

Die Gründung des Vereins war 1867 für die Dorfgeschichte Lehrtes ein eher zweischneidiges Ereignis, gaben doch »Dörfler« und »Bahnhöfler« dem Ort zu jener Zeit eine Art Doppelgesicht, das heißt, der Alltag und auch die Feierabendbeschäftigungen verliefen eher nebeneinander als miteinander. Diese aber auch andere Schwierigkeiten, wie die ständigen Personalwechsel in der beamteten Bahn- und Postbelegschaft, machten dem Vereinsstart in der Folge zu schaffen. Es gab immer wieder Austritte und Neueintritte, mehrere Wechsel im Vorsitz und in der Chorleitung sowie etliche Generalversammlungen pro Jahr: die typischen »Geburtswehen« einer ambitionierten Vereinigung sangesfreudiger Männer. Schon 1868 zeigte sich der Verein jedoch nicht nur als singende Gemeinschaft, sondern trat mit einer geselligen Veranstaltung an die Öffentlichkeit. Eingeladen wurde zu einem Gesang- und Tanzfest zu Pfingsten. Immer wieder gab es auch die sogenannten »Kränzchen«, ein fast jeden Monat stattfindendes Zusammentreffen außerhalb der Übungsstunden, in dem der Verein nicht nur neues Liedgut zu Gehör brachte, sondern die Vereinsmitglieder und Gäste mit Tanz und gelegentlichem Theaterspiel unterhielt, im damaligen Gasthof mit Ausspann »O. Molsen«, später »Schliephacke«, dann »Lehrter Hof«.

Maennerchor_1901
Männerchor im Jahr 1901

Kaiserzeit, Weimarer Republik und Drittes Reich

Nach den ersten 25 Jahren hatte sich der Verein zu einer festen Gemeinschaft gefügt und im dörflichen Leben seinen Platz erworben. Im Jahr 1898 erhielt Lehrte das Stadtrecht und zuvor schon gab es im Sog des Ausbaus der Eisenbahn weitere industrielle Ansiedlungen, die vielen Arbeitern in Lehrte Beschäftigung und Verdienst brachten. Die Zahl der Einwohner stieg auf über 8000 an. Es liegt auf der Hand, dass sich eine derartige Entwicklung auch im Männergesangverein bemerkbar machte, dessen Mitgliederzahlen stetig anstiegen.

Ausgelöst durch die Anregung Kaiser Wilhelm II., möglichst viele Gesangfeste unter deutschen Männergesangvereinen abzuhalten, gab es immer wieder Einladungen zu Preiswettsingen in der Nachbarschaft, an denen sich der MGV Lehrte rege beteiligte. Ja, der Kaiser selbst ließ so­ gar ein Volksliederbuch für Männerchor herausgeben. Wohl keiner im Männergesang­ verein erahnte das Ende der wilhelminischen Ära und niemand konnte sich vorstellen, dass das 50-jährige Vereinsjubiläum 1917 mitten in die Zeit des 1. Weltkriegs fallen sollte. Nach dem Krieg regte sich bei den Sängern aber schon bald wieder das Vereinsleben. Zu registrieren sind die erste Generalversammlung im Februar 1919 und das erste Chorkonzert im November 1919. Bereits 1922 zählte der Chor die erstaunliche Zahl von 84 aktiven Sängern – eine Stärke, die der Verein in seiner weiteren Geschichte nicht wieder erreichen sollte. Auch Lehrte blühte nach dem Ende des ersten Weltkriegs auf. Die Einwohnerzahl stieg 1919 auf 10200 Menschen. Das erste Kino und die erste Kfz-Werkstatt nahmen ihren Betrieb auf. Erst mit der Weltwirtschaftskrise 1928/1929 spürte man ziemlich unvorbereitet das Ende der guten Jahre der Weimarer Republik. Die Arbeitslosigkeit stieg sprunghaft an und erreichte 1932 schon die 6 Millionen Grenze. Viele Sänger konnten sich eine Mitgliedschaft im Männergesangverein nicht mehr leisten und der Verein musste quasi eine Halbierung seiner Mitglieder hinnehmen. Die meisten Landsleute hofften auf bessere Tage.

Mit der Machtergreifung am 30.Januar 1933 durch die NSDAP zog dann eine andere Zeit auf. Die Nationalsozialisten gaben schon im Laufe des Jahres 1933 neue Bestimmungen über eine weitgehende Gleichschaltung aller Vereine heraus. Die Vereinsstatuten mussten auf das sogenannte »Führer-Prinzip« umgestellt werden und unter den Sängern lösten die »von oben« diktierten Regelungen lebhafte Debatten aus. Nicht jeder wollte sich diesen Verhältnissen unterordnen und so gab es im Laufe der Jahre etliche Austritte. Zu Beginn des Jahres 1935 wurden noch 31 Sänger registriert, von denen oft nur 20 an den Übungsabenden anwesend waren. Auch die Propaganda des Dritten Reiches machte vor Lehrte nicht Halt. Ein entsprechender Aufruf in Lehrte vom 7. Februar 1936, unterzeichnet vom Bürgermeister und dem Ortsgruppenleiter, zeigt, mit welcher Konsequenz sich die kulturelle »Vormundschaft« im Chorwesen niederschlug. Jeder mag aus heutiger Sicht sich selbst seine Gedanken darüber machen, wie »angepasst« der Männergesangverein Lehrte damals sein Weiterbestehen zu meistern hatte. Als am 1. September 1939 der 2. Weltkrieg ausbrach, hatten sich die Reihen der Sänger durch die Einberufungen zur Wehrmacht stark gelichtet. 1942 bestand der Verein 75 Jahre und an eine Jubiläumsfeier war wieder nicht zu denken. Die folgenden Jahre litten mehr und mehr unter den Kriegsereignissen mit all ihren Entbehrungen, Ängsten und Schrecken und jeder sehnte das Ende des Krieges herbei.

Aufruf
Aufruf des Bürgermeisters
Aufnahme des MGV von 1867
Männerchor im Jahr 1953

Neuanfang und Aufbruch in die heutige Zeit

Im April 1945, nach der Besetzung Lehrtes durch die Alliierten, kamen die Singabende des Männergesangvereins ganz zum Erliegen. Erst 1947, nachdem die Vereinsstatuten ein weiteres Mal an die Vorgaben der Besatzungsmächte angepasst waren, konnten die Übungsabende wieder anlaufen. Der Verein hatte nun 73 Mitglieder, davon 53 Sänger. Diese Chorstärke blieb bis in die Mitte der Fünfzigerjahre konstant und machte den Männerchor rasch wieder in Lehrte bekannt. Schon am 5. Dezember 1948 veranstaltete der MGV in Chorgemeinschaft mit dem MGV Misburg ein erstes Nachkriegskonzert im Lehrter Hof. 1953 fand sich mit dem Lehrer Erich Straubel eine neue Chorleitung, unter dessen Leitung der Verein musikalisch einen bemerkenswerten Schritt nach vorne tat. Hier ein Auszug aus dem damaligen Zeitungsbericht zu dem Konzert am 25. Oktober 1953 im Ratskellersaal: » … unter der neuen Leitung von Erich Straubel hat der Verein einen ungeahnten Aufschwung genommen und brachte die gebotenen Liedwerke mit einer Präzision und Ausdruck zum Vortrag, die in Erstaunen versetzten und immer wieder zu begeistertem Beifall der zahlreichen Zuhörer führten … «.

Auch in der Stadt Lehrte musste man mit den Umwälzungen der Nachkriegsjahre erst einmal zu­ rechtkommen. Die Infrastruktur der Eisenbahnerstadt war stark zerstört worden und konnte erst nach und nach wieder aufgebaut werden. Schon 1948 zeigte die Einwohnerstatistik eine Bevölkerung von fast 20 000 Menschen, von denen viele als Flüchtlinge in Lehrte und Umgebung ein neues Zuhause gefunden haben. Mancher aus dem Kreis der »Aussiedler« ist damals sicher auch zum Männergesangverein gestoßen. Je stärker sich das »Wirtschaftswunder« in allen Winkeln der neuen Republik bemerkbar machte, umso mehr spürte man auch im Chor die Zuwächse des Wohlstands. Ein Hang zur Bequemlichkeit entstand und führte nach und nach zum Fernbleiben von den Übungsabenden. Man hatte das hundertjährige Bestehen des Vereins im Jahr 1967 vor Augen und erhielt die sog. Zelter-Plakette, eine vom Bundespräsidenten verliehene Auszeichnung als Anerkennung der Verdienste und erfolgreichen Arbeit um den Chorgesang.

Zelterplakette
Zelter-Plakette
Nach diesem Jubiläum stand der Männergesangverein Lehrte im wieder einkehrenden Sängeralltag vor der Tatsache, dass nur noch wenige Aktive zu den Übungsabenden erschienen und der Chor in die Bedeutungslosigkeit abzugleiten drohte. Um neuen Schwung zu erhalten versuchte man es 1970 mit einem neuen Chorleiter und beschloss eine »Modernisierung« des Vereinsnamens.
Trotz aller Debatten zeigten sich die Mitglieder jedoch als zukunftsfähige Gemeinschaft und änderten 1971 ihren Namen in Lehrter Männerchor von 1867 e.V. – erfolgreich, denn schon bald fand der LMC regen Zulauf und konnte in der Stadt wieder in gewohnter Sängerstärke mit über 50 Aktiven auftreten. Im Jahr 1984 traf der Verein eine weitere zukunftsweisende Entscheidung. Für das im Stadtpark 1950 wieder aufgebaute »Fachwerkhaus« – eine ehemals alte Dorfscheune aus dem Jahr 1836 – suchte die Stadt Lehrte eine dauerhafte und sinnvolle Nutzung.
Mit einem gut durchdachten Nutzungskonzept konnte der Verein die damaligen Stadtväter Helmut Schmezko und Dr. Axel Saipa überzeugen, das Haus zu einer Kulturstätte umzugestalten. Hierfür über­ nahmen die Sänger des LMC sämtliche Bau- und Handwerkerarbeiten und im Gegenzug trug die Stadt die Kosten für die benötigten Baumaterialien. Es entstand ein bauliches Schmuckstück, das bis heute seine Strahlkraft als kulturelle Einrichtung für die Stadt und als Chorheim für den LMC entfaltet.
Längst ist dieses Haus auch Übungs- und Veranstaltungsstätte anderer Lehrter Vereine und Institutionen und aus dem Kulturleben der Stadt nicht mehr wegzudenken.
Eine Erfolgsgeschichte, die auch dadurch eine besondere Note bekommt, dass nach vielen »Umwegen« ein 180 Jahre altes Gebäude und ein 150 Jahre alter Verein zueinander gefunden haben. Heute muss sich der 150 Jahre alte Verein der Frage stellen, ob Männerchöre in unserer Zeit generell noch eine Zukunft haben. Im Rückblick auf seine wechselvolle Vereinsgeschichte werden die Sänger aber auch hierfür Lösungen finden, um im 21. Jahrhundert weiterhin das Singen in Lehrte mit dem Lehrter Männerchor am Leben zu erhalten.
Autor: Klaus Wolf
Der Artikel ist eine Kurzfassung aus der Vereinschronik in dem Buch »Singen in Lehrte 1867 bis 2017 – 150 Jahre Lehrter Männerchor«, das 2017 vom LMC heraus­ gegeben und im Felicitas Hübner Verlag (ISBN 978-3-941911-35-2) veröffentlicht wurde. Es ist für 12,80 € im Buchhandel erhältlich.